Geschichte

Wer heute im Ratibor Theater zu Gast ist, war zu der Zeit, als das Theater gegründete wurde, womöglich noch gar nicht geboren. Seit 42 Jahren gibt es das kleine Hinterhof-­Theater in Kreuzberg. Die Wurzeln des Ratibor Theaters gehen bis zurück in die 1970er Jahre.

Die Geschichte des Theaters und seiner Macher repräsentiert auch ein Stück die Geschichte Berlins: Geprägt vom Inselcharakter West­Berlins in den hochpolitisierten 1970er Jahren bis zur Kreuzberger Endzeitstimmung in den 1980er Jahren über den Mauerfall, die Nachwendezeit und hin zur Realität einer pulsierenden Großstadt, die sich gerade erst wieder neu erfindet – all das spiegelt sich irgendwie auch in der Geschichte dieses Theaters wieder.

"So weit sind wir", 1979

West-­Berlin umwehte stets ein Hauch von Mythos: David Bowie mit Iggy Pop zusammen in der Haupstraße, mit Brian Eno in den legendären Hansa­-Studios, die Hausbesetzer*innen-­Welle, „Deutscher Herbst“ – insbesondere die späten 1970er Jahre stehen für ein ganz spezielles West-­Berliner Lebensgefühl. Davon blieb auch die Kulturszene nicht vollkommen unberührt. Die Gründung des Ratibor Theaters fällt in eine Zeit, die geprägt war von einer Politisierung von Straße und Bühne sowie einer Neugier auf neue und andere Formen der theatralischen Ausdrucksweise jenseits von klassischem Regietheater. Inspiriert von ausländischem Avantgarde-Theater wie dem New Yorker Living Theatre oder dem polnischen Theatertheoretiker und Praktiker Jerzy Grotowski u.a. schloss sich eine anfangs recht große Gruppe unterschiedlichster Leute zusammen. Man könnte diese erste Phase auch als Experimentierlabor bezeichnen. Aus Straßentheater, Experimentaltheater, Agitprop, Tanz, Performance und Musik entstand im Jahre 1977 ein freies Theaterkollektiv – das Ratibor Theater.

"Verstörtheit moderner Menschen", 1981

Der Name geht zurück auf die Ratiborstraße in Kreuzberg, wo man die erste Probenetage hatte, die auch für Aufführungen und Workshops genutzt wurde. Auf der Suche nach einem neuen Raum fand man 1980 im Kerngehäuse in der Cuvrystraße den ­bis heute bespielten idealen Ort. Zu der Zeit war die West­-Berliner Instandbesetzungswelle in ihrer Hochphase, also besetzte die Theatergruppe mit vielen anderen Projekten die ehemaligen Gewerbehöfe der Kindernähmaschinenfabrik Müller und baute eine der Fabriketagen soweit selber um und aus, dass Theater, Tanz, Musik, Workshops, etc. stattfinden konnten.

Postkarte zur Neueröffnung nach Umbau: Ratibor-Familie und Ensemble, 1990

Zu dieser Zeit des Ratibors kristallisierte sich ein kleiner Kern um Ute Wohlgemuth und Harald Klenk heraus, der fest entschlossen war, Theater als Beruf auszuüben, davon zu leben. Neben diversen Tourneen und Gastspielen wurde das Ratibor zum festen Spielort, dort wurden die Stücke entwickelt und aufgeführt. Charakteristisch für die ersten Stücke war, dass es keine Regiestücke gab, Ideen wurden aus dem Moment heraus kollektiv erarbeitet und dafür verschiedenste Ausdrucksformen benutzt: körperlich, stimmlich, klanglich, mit Musik, Masken, Tanz, Akrobatik etc.

"Ratiborskys: Controlle des Banalen", 1982

Zusätzlich veranstalteten die „Ratiborskis“ Workshops, um das experimentelle Theater weiterzugeben. Darüber hinaus wurde sich auch an politischen Aktionen beteiligt. Als Teil der alternativen Bewegung war es selbstverständlich, gesellschaftliche Prozesse durch das Theater zu unterstützen. Mitte der 1980er begann eine neue Phase mit der Konzipierung eigener Regiestücke. Vor allem Harald Klenk schrieb und führte Regie bei einer Vielzahl von Stücken.

Harry Hundt: "Der Mann, der den Aufschwung verpaßte", 1984

Im Zuge einer notwendigen Modernisierung – man hatte ja in einem besetzten Haus eine Etage zum Veranstaltungsraum umfunktioniert ­ wurde das Ratibor mit Lotto­-Mitteln im Jahre 1990 zu einem professionellen Spielort umgebaut. Das Problem aus Sicht der „Ratiborskis“ bestand nur eben darin, dass zeitgleich die Mauer fiel und mit ihr (fast) die ganze freie Theaterszene. Die Subventionierungen wurden eingeschränkt oder gestrichen und im Osten der Stadt konnte man sich als Kreative/r in den Nachwende­-Jahren so richtig austoben. Kreuzberg war out.

Flyer zu "Endstation Sehnsucht - Kreuzberg", 1987

Bis 1993 führte das Ratibor noch eigene Stücke auf. Danach gab es nur noch Gastspiele. Diese Phase war wirtschaftlich schwierig. Man bot Künstlern aus den verschiedensten Bereichen wie Tanz, Musik, Literatur, Theater etc. eine Bühne. Aber bis sich deren Qualität herum gesprochen hatte, war das Gastspiel schon vorbei. Kracher wie Gaby Decker, Willy Astor oder Horst Evers u.a. zog es dann aber schnell weiter auf größere Bühnen, so dass diese Zeit sich doch sehr mühsam gestaltete. Im Jahr 1997 gab es schließlich eine glückliche Entscheidung, wodurch die permanente Suche nach neuen Gastspielern/Gastspielerinnen obsolet wurde.

"Ratiborskys: Controlle des Banalen", 1982

Die frisch gegründete Impro-­Gruppe „Die Gorillas“ suchte damals einen festen Spielort und das Ratibor bot sich aus vielerlei Gründen dafür an. Nicht alleine die Tatsache gab den Ausschlag, dass man in Norbert Riechmann ein Ensemblemitglied kannte und man sich gegenseitig schätzte, auch der experimentelle Charakter von Improvisationstheater mit seinen offenen Formen, dem spontanen Entwickeln aus dem Moment heraus und insbesondere die kollektive Struktur der Gruppe ohne Hierarchien entsprachen und passten zum Geist des Ratibor Theaters. Nach 20 Jahren schien sich ein Kreis zu schließen. Aus dieser Symbiose entwickelte sich bis heute eine Erfolgsgeschichte, die das Ratibor zu einer Top­-Adresse in der Impro­-Szene und „Die Gorillas“ zu einer der besten Impro­-Gruppen weltweit hat werden lassen.